Die Financial Times Deutschland erlaubt nicht, dass ihre Artikel auf privaten home-pages ausgestellt werden. Daher kann hier nur das Manuskript gezeigt werden.

Es wurde mit kleinen Änderungen in einer Sonderbeilage der Financial Times Deutschland über Indien am 24. April 2006 publiziert.

 

 

Auto-Boom in Indien

von Rainer Hörig

 

 

Indien macht mobil, auf Schienen, in der Luft und auf der Straße. Hier brummt der am schnellsten wachsende Automobilmarkt der Welt, so die deutsch-indische Handelskammer in Mumbai. Im vergangenen Jahr wurden fast 900.000 PKW’s verkauft – und mehr als sechs mal soviele Motorräder und Roller. Auch die Zulieferindustrie boomt und rüstet sich für den internationalen Wettbewerb. „Mit steigendem Bruttosozialprodukt wächst auch die Nachfrage nach Autos und Motorrädern,“ erklärt Baba Kalyani, Chef des Gussteillieferanten Bharat Forge in der Autostadt Pune. „Ich erwarte, dass die Branche jährlich um 12 bis 15 Prozent zulegt.“

 

In einem Land, in dem mindestens ein Viertel der Bevölkerung nicht die Grundbedürfnisse sättigen kann, sprich unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, gelten andere Maßstäbe. Ein Privatfahrzeug ist hier purer Luxus, steht nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung zur Verfügung. Modelle wie Ford Fiesta oder Opel Corsa gelten hierzulande als „Luxusautos“, und für den Preis einer Mercedes-Limousine kann man sich auch ein schmuckes Eigenheim bauen.

 

Vor rund fünfzig Jahren begann die indische Automobilproduktion mit der Lizenzproduktion europäischer Modelle. Mitunter wurden ganze Produktionsstätten nach Indien verlagert, etwa für Royal Enfield Motorräder aus Großbritannien oder Zündapp-Mopeds aus Deutschland. Bis heute dominieren Nachbauten eines betagten Fiat-Modells als Taxis die Straßen der Wirtschaftsmetropole Mumbai. Indische Beamte nutzen nach wie vor den seit vierzig Jahren in Kalkutta produzierten Ambassador, der auf einem Modell der britischen Firma Morris basiert.

 

Nach der Liberalisierung der Wirtschaft ab 1991 änderte sich allmählich das Straßenbild. Die japanische Firma Suzuki gründete mit der Regierung das Gemeinschaftsunternehmen Maruti-Suzuki, das mit preisgünstigen Kleinwagen den bislang nur der Oberschicht zugänglichen indischen PKW-Markt für die Mittelklassen öffnete. Die nach dem fliegenden, affenähnlichen Gott der Hindus benannte Automarke ist mit mehr als 500.000 verkauften Fahrzeugen pro Jahr auch heute noch unangefochtener Marktführer.

 

Mittlerweile engagieren sich fast alle weltweit bedeutenden Autohersteller in Indien. Deutsche Firmen wie Daimler-Chrysler, BMW oder VW-Skoda konzentrieren sich auf das Luxus-Segment. Das meist-verkaufte deutsche Auto in Indien ist der Skoda Oktavia. Er fand im vergangenen Jahr 10.033 Käufer, immerhin 38 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Skandal um den Ex-Skoda-Vorstand Helmuth Schuster, der im Frühjahr 2005 die Regierung des Unionsstaates Andhra Pradesh um zwei Millionen Euro betrog, hat dem Umsatz offenbar nicht geschadet.

 

Kleinwagen machen rund 70 Prozent des indischen Autogeschäfts aus. Einer der größten einheimischen Hersteller, Tata Motors bastelt seit geraumer Zeit an einem Sparauto, das weniger als einhunderttausend Rupien, umgerechnet knapp zweitausend Euro kosten soll. Die Firmen Suzuki und Hyundai stellten kürzlich Pläne vor, ihre indischen Werke zum Export-Hub für Kleinwagen auszubauen.

 

Mit hohen Einfuhrzöllen auf komplette Fahrzeuge hält die indische Regierung ausländische Hersteller dazu an, eigene Produktionsstätten im Lande aufzubauen. So wird auch die einheimische Zulieferindustrie gefördert. Daimler-Chrysler etwa hat bislang zwanzig Gemeinschaftsunternehmen mit Zulieferern gegründet. Kritische Komponenten werden jedoch weiterhin aus Deutschland importiert und im Mercedes-Werk in Pune nahe Mumbai montiert.

 

Der Zündkerzen- und Dieselpumpenhersteller MICO, ein joint venture der Firma Robert Bosch, ist das umsatzstärkste deutsch-indische Gemeinschaftsunternehmen. Der Bosch-Konzern beliefert Märkte in Europa, USA und Fernost mit in Indien gefertigten Einspritzpumpen und Bremssystemen.

 

In der Industriestadt Pune, die man auch das „indische Detroit“ nennt, produziert die Metallgießerei Bharat Forge Achsen und Kurbelwellen für Nutzfahrzeuge und PKW’s. Nur 45 Jahre nach der Gründung ist das Unternehmen heute die zweitgrößte Metallgießerei der Welt. Bharat Forge erregte vor drei Jahren Aufsehen, als es das deutsche Schmiedeunternehmen Carl Dan Peddinghaus übernahm. „Wir haben uns schon früh am Weltmarkt orientiert,“ erklärt Geschäftsführer Baba Kalyani gegenüber der Financial Times Deutschland. „Heute betreiben wir Fabriken in sechs Ländern, neben Indien auch in China, Deutschland, Schweden, Großbritannien und den USA.“

 

Die internationale Zusammenarbeit habe seinem Unternehmen Wettbewerbsvorteile beschert, versichert der bescheiden auftretende Manager und streicht die Syergien zwischen den Nationen heraus: „ Die Deutschen besitzen sehr hoch entwickelte technologische Fähigkeiten, während Inder eine Bereitschaft zum schnellen Lernen mitbringen. Eine gute Kombination, meine ich!“

 

In Indien müssen sich Autofahrer die Straßen mit Ochsenkarren, Kuhherden und klapprigen Lastwagen teilen. In den Metropolen des Landes bricht täglich der Verkehr zusammen. Seit einigen Jahren schenkt die Regierung dem Ausbau der Straßen mehr Aufmerksamkeit, aber der Rückstand in der Entwicklung der Infrastruktur ist so gewaltig, dass, in Baba Kalyanis Worten, „keine Anstrengung groß genug sein kann“. Der mittelständische Unternehmer Sujit Patwardhan, der ein Bürgerforum zu Verkehrsfragen in Pune initiierte, gibt zu bedenken: „Ich freue mich, dass immer mehr Menschen ein Auto kaufen können. Aber ich fürchte auch, Autofahren könnte bald mehr Pein als Freude sein. Unsere Städte ersticken am Verkehr, die Atemluft wird immer schlechter. Parkplätze sind schon jetzt Mangelware. Es kann gut sein, dass sich die Einstellung der Menschen zum Automobil bald ändert.“

 

© COPYRIGHT Rainer Hörig 2006