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Deutsche Welle, Weltspiegel

Brief aus Asien, 17.10.2005

 

Indien – Eine Welt für sich

von Rainer Hörig

 

Seitdem Indien als ein Markt der Zukunft betrachtet wird, streben in großer Zahl internationale Investoren ins Land, unter ihnen viele Deutsche. Allerdings spricht sich auch herum, dass der indische Markt kein leichtes Terrain darstellt. Um hier erfolgreich zu agieren, sind nicht nur Marktkenntnisse gefragt, sondern auch menschliches Fingerspitzengefühl. Es gilt, die Kluft zwischen grundverschiedenen Kulturen zu überbrücken.

 

Für Neulinge beginnt der indische Alltag mit scheinbar banalen Fragen: Wenn mein Gesprächspartner den Kopf hin- und herwiegt, meint er damit ja oder nein? Ein Arbeitsessen kann ziemlich peinlich verlaufen, etwa wenn der deutsche Gastgeber mit bester Absicht und jovialer Miene seinem Partner eine extra große Portion Hühnerfleisch serviert, ohne sich zu vergewissern, ob der auch Nicht-Vegetarier ist. In kniffligen Verhandlungssituationen ist es hilfreich, die Reaktionen der anderen Seite richtig einschätzen zu können. Wie Mitarbeiter der deutsch-indischen Handelskammer in Mumbai bestätigen, scheitert so mancher Geschäftsabschluss an interkulturellen Missverständnissen.

 

Indien ist eine Welt für sich, mit eigenen Traditionen und Ansichten, widersprüchlich und exotisch. Wie kaum ein anderes Land lebt dieses aus seiner Vielfalt, aus unterschiedlichen Ethnien und Kulturen, die während 5000 Jahren Geschichte zu einer eigenständigen Zivilisation verschmolzen. Viele ausländische Besucher zeigen sich fasziniert von dieser üppigen Vielfalt. Dagegen befremdet sie manch seltsamer Brauch, die Kastenordnung, die Armut, die scheinbare Gleichgültigkeit. Mangelndes Verständnis führt leicht zur Ablehnung, zur emotionalen Distanzierung von der neuen Wirklichkeit, die sich bis zum persönlichen Abkapseln auswachsen kann, besonders wenn Konflikte auftreten.

 

Stichwort: Zeitempfinden. Deutsche Geschäftsleute haben meist wenig Zeit und sind daher bestrebt, Verhandlungen möglichst rasch zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Ihre indischen Partner legen dagegen zunächst Wert auf ein persönliches Näherkommen, das sie als "vertrauensbildende Maßnahme" schätzen. Hier führt der Weg zum Geschäft über das Menschliche. Man muss sich mehr Zeit für Smalltalk und Cocktail Partys nehmen.

 

In Indien erfordert der Unterhalt eines repräsentativen Haushaltes mehrere Bedienstete. Fahrer, Kindermädchen, Haushälterinnen und Gärtner sind für die meisten ausländischen Entsandten die ersten Bindeglieder zur Außenwelt. Ich habe ihnen einen guten Teil meiner Hindi-Sprachkenntnisse zu verdanken und gewinne durch sie Kontakt zum einfachen Volk. Doch ich bin immer wieder verblüfft, wenn unsere Köchin Nirmala plötzlich nicht zum Dienst erscheint. Im Laufe des Tages ruft sie an und erklärt beispielsweise, ihre Großtante sei plötzlich verstorben und sie hätte ins Dorf ihrer Eltern fahren müssen, um an den Trauerfeiern teilzunehmen.

 

Mein deutsches Pflichtbewusstsein ist empört, aber es bietet keine Lösung an. Die in der ersten Wut ausgesprochene Kündigung nehme ich später zurück. Schließlich akzeptiere ich, dass die Haushälterin ihre Familie höher bewertet, als die Arbeitsstelle. Offensichtlich besitzt die Familie in Indien einen fundamental anderen Stellenwert als bei uns in Deutschland.

 

Wer in Indien erfolgreich sein will, muss sich also neues Wissen und neue Fähigkeiten aneignen. Geschäftsleute, die mit den Traditionen und dem kulturellen Hintergrund der Menschen vertraut sind, gewinnen leichter Freunde und haben schneller Erfolg. Wenn Mitarbeiter ihre Umgebung besser verstehen und ihr Verhalten entsprechend anpassen, arbeiten sie zufriedener und effizienter. Indien ist, wie gesagt, ein schwieriges Terrain.

 

© COPYRIGHT Rainer Hörig 2006